Ata-Moulée oder Morgendämmerung über einem afrikanischen Dorf - (Erstfassung der Kurzgeschichte, 1973 / 1974) -

Entwichen der Gefangenschaft in einem kalten Land, machte er sich auf die Suche nach seiner Heimat, obwohl er genau wusste, dass sie vergeblich sein würde.

Geblieben war ihm ja nichts. Garnichts.

Alles hatte der Krieg in Schutt und Asche gelegt, unter der nun auch seine Familie begraben war.

Tränen der Trauer und Wehmut über das Einst, der Sorge um das Hier und Jetzt erfüllten sein Innerstes. Er mußte einfach vergessen, erneut fortgehen.

Müde raffte er sich auf und verließ die vom Feuer verzehrte Öde seines alten Zuhauses.

Ihm war klar, dass er dieses Land für immer aufgeben mußte, um existentiell überleben zu können, um dieser ohnmächtigen Leere, diesem Nichts zu entgehen, das seine Heimat - deren Leben voller Teilnahmslosigkeit - in Armut, Leid, Mißgunst und Grausamkeit verwandelt hatte.

Es schauderte ihn bei dem Gedanken, dass ihm sein Lebensrecht streitig gemacht werden, er wiederum gefangen sein könne.

In schmerzlicher Erinnerung stöhnte er auf.

Der enge und farbbleiche Alltag, den allein der überstehen würde, der listig aus ihm ein Geschäft zu machen verstand, lastete in seiner bleiernen Schwere auf ihm und ließ ihn kaum mehr atmen.

Nachts, zwischen nackten, kahlen Wänden, dem frostigen Zug des Windes ausgesetzt, lag er in seinem Zimmer und konnte keinen Schlaf finden. Sein Traum von dem wärmenden, feurigen Ball, von Geborgenheit, und diese ewige Sehnsucht nach der fernen Weite ließen ihn einfach nicht zur Ruhe kommen.

Eines Tages, auf dem Weg von seinem Arbeitsplatz zu seinem Zimmer, fiel ihm ein orginell gekleideter Mann auf, der sich, zwischen den Trümmern, an einem völlig zerbeulten, klapprigen Citroën zu schaffen machte. Irgendeine innere Stimme sagte ihm, dass es dieser Mann sei, mit dem er ein anderes Leben aufbauen könne.

Daher sprach er ihn einfach an.

Seine großen, blauen Augen strahlten etwas Fremdartiges, Seltsames zugleich aber auch Zuversichtliches aus, das Erik wärmte. In ihnen sah er eine erlösende Weite, in der winzig-kleine Funken lustig hin- und hersprangen.

Wenn er sprach, spielte ein schalkhaft-ironisches Lächeln, vom Beben seiner riesengroß aufgeblähten Nasenflügel begleitet, um seine schmalen Lippen. Seine von Wind und Wetter braungebrannte Haut spannte sich über hohen, slawischen Backenknochen. Er war von großem Wuchs und sehr schlank. In grotesker Komik ahmte er die durch den Krieg vollkommen entmenschlichte und nach den Zivilisationsdrogen - Fortkommen und Ruhm - süchtige Umwelt nach.

Fasziniert hörte ihm Erik zu und fühlte mit einem Mal unendliche Erleichterung. Die Gegenwart dieses Fremden machte ihm wieder Mut.

Und als er dann noch dieses Dasein, eingezwängt im Raum des vergänglichen, kalten Steins der Gegenwart, mit dem der Weite, der Wüste verglich, entschloß sich Erik, endgültig mit ihm zu gehen.

Der Fremde, der sich Claude nannte, hatte jahrelang in der Fremdenlegion gedient. Er war seit geraumer Zeit als Fahrer für ein spanisches Unternehmen in Marokko tätig. Nach einem Urlaub in der zerbombten Heimat, wollte er nun wieder zurück an seinen Arbeitsplatz.

"Weißt Du", sagte er zu Erik, "da unten gibts für jeden 'was. Und keiner macht einem Vorschriften. Da bist Du noch frei und kannst leben. Die Schakale sind eben doch menschlicher ... ."

Als Freunde durchquerten sie Frankreich und Spanien. In Algeciras verkaufte Claude seinen alten Citroën und, auf einem rostigen Tanker, hin- und herschwankend zwischen faulig-stinkenden Tonnen, Erbrochenem, einen lächerlich kleinen Raum mit allem möglichen Gesindel teilend, fuhren sie hinüber nach Afrika.

Erik erlebte dies alles, erschöpft vor sich hinstarrend, wie ein anderes Ich: Bewusst, zum Greifen nahe und dennoch: So unendlich weit entfernt.

In Ceuta, der spanischen Festungsstadt, sagte Claude: "Wir sind da. Mach' kein solch' trauriges Gesicht! Jetzt werden wir mal' ein paar Freunde besuchen. Wollen doch sehen, was die treiben."

Und in einem versteckt liegenden kleinen Hafencafé stießen sie auf Claudes Kumpane.

Kalter Schauer lief Erik über den Rücken, als er deren kahlgeschorene Köpfe sah, ihre Raubvogelgesichter, die ihn an Kriegsgefangene erinnerten.

Claude beruhigte ihn und erzählte, dass sie nach 'nem Ding, das sie gedreht, in einer Strafkompanie gelandet wären, aber jetzt ja wieder frei seien.

Angespannt betrachtete Erik die Legionäre, bemerkte den Glanz in ihren Augen, ein freundliches und vertrauensvolles Lächeln.

Langsam schwand seine Angst.

Plötzlich sprangen diese Fremden auf, begannen mit verklärten Gesichtern melancholische Lieder aus ihrer Heimat zu summen. Sich im Rhythmus der Melodien wiegend, schwollen ihre Stimmen mehr und mehr an. Ihre Körper vereinigten sich, steigerten sich in einen dämonisch-beschwörenden Tanz von verzückter Wildheit.

Für Erik war dies einer der schönsten Augenblicke in seinem Leben: Getragen von der Harmonie des Gesangs, hingerissen vom Feuer des Tanzes, fühlte er in sich eine nie geahnte Wärme aufsteigen und sich seiner so intensiv bemächtigen, dass ihm die Tränen kamen.

Unendlich weit lag noch die Zeit entfernt, in der sie einige Bordelle aufsuchten. Der Schleier der Gleichgültigkeit, der lähmenden Ruhe, der Abscheulichkeit, der Armut, der auf diesen Häusern lag, ekelte ihn im gleichen Masse, wie er ihn anzog. Die Erinnerung an seine geschundene Heimat stieg nebelhaft in ihm auf. Er suchte das Vergessen. Er wollte fort.

Claude, der ihn amüsiert beobachtet hatte, schlug vor, weiter 'runter, in den Süden zu fahren.

So setzten sie ihre Reise fort. Vorbei an felsigen Höhen, an einsam gelegener Steppenlandschaft, über den Quèd Oum er Rbia bis hinunter nach Marrâkech.

Nach einem Aufenthalt von wenigen Tagen ging es weiter durch den Atlas el Kebir.

Schlagartig wurde es bitterkalt. Wind und Regen begannen zur gleichen Zeit einzusetzen und peitschenartig auf sie einzuschlagen. Der verzweifelte Schrei ihrer Schmerzen wurde vom Brausen und Heulen übertönt.

Nach endlos langer Zeit gelangten sie völlig ermattet ins spanische Ifni.

"Jetzt stehst Du schon am Rande der Wüste. Bald wirst Du im Reich der Mauren sein. Schau' noch einmal zurück. Vielleicht ist es das Letzte, was Du als Erinnerung an die alte Welt mitnehmen kannst!" hörte Erik Claude laut neben sich sagen. Er wandte sich um. Seine Augen brannten fürchterlich. Er sah hinter sich in die unendliche gebirgige Weite, in der die Bilder der Landschaft von Einst mit der von Jetzt zusammenflossen, dann jedoch, gleich noch feuchten Farben, sich wieder verliefen. Er bekam Angst. Verzweifelt bemühte er sich, sie zu trennen. Als es ihm endlich gelang, schöpfte er erneut Mut und sprach ganz leise, mit rauher, brüchiger Stimme, so als wollte er es sich selbst bestätigen: "Ich habs doch geschafft. Ich hab' sie gefunden. Meine Landschaft. Meine Zukunft."

Der Kamelplatz lag verloren im fauchenden Sandsturm. Seine feinen Körner, scharf wie Rasierklingen, schnitten in die vom Wetter zerissene Haut und drangen mit unglaublicher Intensität auch in die vom Burnus bedeckten Körperstellen ein.

Bei "Rosa" sahen die Frauen so verwahrlost und schmuddelig aus, dass ihm bei ihrem Anblick richtig übel wurde.

"Es ist das letzte Haus, in dem noch Weiße arbeiten", erklärte ihm Claude. "Frauen, die irgendwo damit im europäischen Ausland begonnen haben, jetzt aber derart hässlich, verlebt und krank sind, dass sie nur noch hier, in diesem verseuchten Loch, auf ihren Tod warten können."

Erik hatte einen bitteren Geschmack im Mund, als er dies Elend sah.

Spät in der Nacht, nachdem sie sich noch einmal besprochen hatten, legten sie sich einfach auf der staubigen und schmutzigen Erde schlafen.

Und am anderen Morgen, als die Sonne schon hoch stand und sie freundlich anblitzte, sahen sie verloren dem geschäftigen Treiben um sie herum zu.

"Schau' nur richtig hin", sagte Claude in ätzendem Sarkasmus. "Es ist das Letzte, was Dir von der alten Welt verbleiben wird!"

Mit einem schweren Lastwagen donnerten sie südwärts. Claude saß hinter dem Steuer. Seine Arbeit hatte wieder begonnen.

Semara lag schon in den goldfarbenen Sanddünen der Spanischen Sahara. Ihren imposanten Eindruck empfand Erik so unvergleichlich schön, dass er am liebsten ausgestiegen wäre. Aber sie mußten weiter. Hinter Semara wurde die schmale Piste gefährlicher: Sanddünen hatten ihre Spur verwischt, doch Claude manövrierte den Wagen sicher hindurch.

Die Nacht verbrachten sie im Schutze des Lasters.

Am darauffolgenden Morgen sah Erik zum ersten Mal, ganz hinten am silbrig gleißenden Horizont, eine Nomadenkarawane. Sie war weit weniger malerisch, als Claude ihm geschildert. Er wurde misstrauisch. Ihm war auf einmal zum Heulen zumute. Zermürbt dachte er bei sich: Diese Einsamkeit. Kein Wesen. Kein Wasser. Und murmelte gerade so laut, dass Claude es vernehmen konnte: Nur Staub. Und endloser Sand. Sand. Bald erreichten sie die Karawane und legten sich, in ihre wollenen Kapuzenmäntel gehüllt, in ihr nieder.

Doch Erik floh in dieser Nacht der Schlaf. Eingemummt in das Kleid der Wüste, den Mantelkragen über Hals und Kopf bis ans Kinn heruntergezogen, lag er neben einem schwer verschnaubenden Kamel und versuchte vergeblich in diese Landschaft hineinzukriechen. Traurig schaute er hinauf in den pechschwarzen Himmel, schreckte entsetzt hoch, als plötzlich das grauenvolle Heulen der Schakale sein Ohr traf. Dann wurde es um ihn herum ganz still.

Nachdenklich versank er in seinen Traum von dem wärmenden feurigen Ball, von Geborgenheit, von Harmonie, die von menschlicher Nähe ausging und die seiner inneren Kälte, seiner Angst Trost zu spenden vermochte. Sein Körper zuckte erregt. Er schloß die Augen und fühlte, dass sein Traum für ihn immernoch Quell der Erlösung war. "Es wäre zu schön", dachte er, "einfach zu schön ..."

Gegen Morgen wurde es eisigkalt. Erik fror. Daher stand er auf. Er blickte um sich und sah die Sonne erwachen, wie in seinem Traum. So weit er auch schaute, glänzten und funkelten die Sandwellen unter dem gleißenden Licht. Es war ein Märchen. Erik zweifelte an seinem Verstand. Nie hatte er Vergleichbares gesehen: Die große brennende Kuppel glühte türkisfarben auf, wechselte langsam von einem tiefen Rot in ein helles über und erstrahlte endlich blendend weiß. Er war wie betäubt. Er fühlte sich unsicher. Der Boden unter seinen Füßen schwankte. Dies Schauspiel, war es wirklich?

Im Laufe des Tages fuhren sie über den Wendekreis des Krebses nach Mauretanien, das einst auch die Heimat der hamitischen Berberstämme gewesen war. Schlanke, hochwüchsige Nomadenfrauen mit lockigem, blauschwarzem Haar und wunderschön scharfgeschnittenen, edlen Nasen trieben mit zierlichem Gebaren ihre Tiere an die Wasserstellen. Ihre Körper waren in lange, indigofarbene Gewänder gehüllt und leuchteten in der glühenden Hitze wie ein erfrischendes Nass.

Einige Tage später, nach aufreibenden und abenteuerlichen Havarien in der Sahara, erreichten Erik und Claude Goundam, ein kleines Dorf in Mali. Dort konnten sie den Singenden Fluss sehen. Frauen wuschen ihr Geschirr, ihre Wäsche in ihm und Kinder tummelten sich, vergnügt lachend, in seinem tiefen Uferschlamm.

Die Nacht verbrachten die beiden in Gourma-Rharous, einem Dattelpalmendorf am Niger. Um die grösste Wasserstelle herum feierten die Ureinwohner im Schein des Feuers, das ihre Körper gespenstisch beleuchtete, ein riesiges Fest. Singend und tanzend steigerten sie sich in ein begeistertes Aussersichsein. Und, als Bewegung und Rhythmus ihren Höhepunkt im Nichtmehrfasslichen, im Unerträglichen gefunden hatten, ergriffen die von Schweißperlen Überströmten Männer oder Frauen ihrer Wahl und taumelten mit ihnen davon.

In kurzer Zeit lag die Wasserstelle wie ausgestorben im schimmernden Licht des Mondes.

In dieser Nacht gelang es Erik zum ersten Mal sich aus seiner inneren Verkrampfung zu lösen und die neue Welt in sich aufzusaugen. Nichts mehr stand zwischen ihnen. Er brauchte sich in keinen Traum mehr zu flüchten, um wenigstens in seinem Gefangensein ein Zuhause zu empfinden.

Hier wurde Erik zum Ich.

Ein dunkles, warmes Lachen aus einem großen, breiten Frauenmund mit strahlenden, elfenbeinfarbigen Zähnen war plötzlich neben ihm. Und er vernahm dicht an seinem Ohr ganz sanft und zärtlich die leisen Worte, die ihn im dämmernden Morgen lockten:

"Je m'appelle Ata-Moulée".





Auf diesen Pages existieren noch weitere MichiePoeme sowie ein Bericht, ein Opus, verschiedene Statements, ihr Curriculum Vitae und - natürlich - ihre HomePage. Sie alle könnt Ihr locker anklicken und lesen in:

"Michie's HomePage"