1980


VORBEMERKUNG


In windgeschützten Ecken stehen, halb verborgen, Blinde. Um ihre Hälse tragen sie, an einer Eisenkette oder an einem etwas dickeren Seil befestigt, Lose. Mit von Stunde zu Stunde immer heiser werdenden Stimmen rufen sie die vorbeihastenden Passanten an und fordern sie zum Kauf der Lose mit dem monotonen Spruch auf:

"Mir sind noch Lose übriggeblieben!"

Tag für Tag, von morgens um sieben bis spätabends, von einer etwa zweistündigen Mittagspause unterbrochen, erarbeiten sie dem spanischen Staat für eine warme Mahlzeit täglich und ein Minimum an Entgelt monatlich ein immenses Vermögen.

In den ersten Monaten meines Aufenthalts bemerkte ich nur "nichtsehende" Losverkäufer. Später dann, als die Monate zu Jahren wurden, konfrontierte mich jeder Tag mit den verschiedenartigen Behinderungen dieser vom Schicksal schwer Gezeichneten und, in allen Aspekten des menschlichen Lebens, äusserst Benachteiligten.

Das Mitgefühl mit den verunstalteten Menschen - oft ohne Gesichter, ohne Zähne, ohne Arme, ohne Beine - erbarmt. Man kauft und hat es dann plötzlich ganz eilig.

Nur Ihnen, die jeder so gerne vergessen möchte, ist das folgende Gedicht gewidmet:




das geschäft


1


hinkend und humpelnd
gesichts- und haarlos
suchen sie tastend im
grauen des morgens
windgeschützte ecken.


2


murmelnd und raunend
schreiend und krächzend
verkaufen sie lose
den ganzen tag
für den staat.


invaliden durch feuer, inzest, hunger und krieg

für winterstaat, für sommerstaat, für einen rauhen staat.



3


mitleid und erbarmen lindern ihre not um das alltagsbrot lässt dem staat den gewinn ohnehin.


4


hinkend und humpelnd gesichts- und haarlos murmelnd und raunend schreiend und krächzend doch nicht stimmlos.


invaliden durch feuer, inzest, hunger und krieg





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